Andreas Brehmer
momentum
17.-19.09.2010
Die fundamentale Entzauberung der modernen Wirklichkeit, so wie sie von Schopenhauer
und Nietzsche beschrieben wurde, schlägt sich in einer nicht zu übersehenden
melancholischen Grundstimmung in unserer heutigen Gesellschaft nieder. Man spricht gar
vom Posthumanismus, vom Ende des Menschen und davon dass die Zeit des Menschen
bald vorüber wäre, da sich der Mensch zwischen der Decodierung seines Genoms und der
Ortlosigkeit seiner unruhigen Existenz langsam auflöse. Wie Michel Foucault es in seiner
Schrift „Les Mot et les Choses“ (Die Ordnung der Dinge) prophezeite (...) kann man sehr
wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.
Der Mensch ist in Brehmers Arbeiten bereits nahezu verschwunden und taucht nur noch
als Spur auf. Gesten und Momente der Erinnerung weisen auf einen abwesenden
Menschen hin. In der Ausstellung momentum versammelt Brehmer Arbeiten aus
verschiedenen Schaffensphasen zu einem bildnerischen Essay. Die Videoarbeit La Reprise,
eine Fotografie, die eher wie eine altmodische Daguerreotypie als ein Digitaldruck anmutet,
eine Raumintervention und einige Notizen werden in anachronistischer Weise gezeigt.
In der Videoarbeit La Reprise tastet die Kamera den scheinbar endlosen Bildraum in einer
ewigen Bewegung ab. Es erscheint eine Landschaft, fallende Wassertropfen, bald sieht man
eine weite Landschaft, bald ein dunkles Fenster, dann eine Figur, einen Lidschlag.
Umgeben von sich ewig wiederholendem Regen, Geflüster und leiser Geigenmusik ist die
Zeitung der einzige Hinweis auf Ort und Zeit. Nicht von ungefähr stammt die Musik von
John Cage, der sich zeitlebens mit der Zeitlichkeit und den Grenzen von Tönen und deren
Wiederholung und Zufälligkeiten auseinandersetzte. Wenn Brehmer nun das Stück Cheap
Imitation (Violinfassung)2 aus dem Jahre 1977 ausgewählt, welches nahezu vollständig nur
aus einer einzigen Melodielinie besteht, in die zufällige Doppelungen eingebaut sind, so
stellt er damit eine Parallele zu der Geste der Erinnerung und Variation her. Die Wahrheit
der Erinnerung ist immer fraglich, es bleibt nur das momentum.
Hier zeigt sich eine Verbindung zu den Denkzetteln (L'image est une création pur de l'esprit) aus
dem Jahre 1994. Diese Notizen, als Artefakte ausgestellt, zeigen den Ursprung des
Gedankens, der in allen Arbeiten in jeweils unterschiedlicher Form Gestalt angenommen
hat. Die Mitschrift, ein Fragment aus den Schriften des französischen Lyrikers und
Theoretikers Pierre Reverdy behandelt die Annäherungen von bildnerischen Wirklichkeiten
und deren Verhältnis zueinander.
1
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974, S. 462.
2
The violin version, completed in 1977, was a collaboration with Paul Zukofsky. This transcription is
transposed a major third higher than the original (otherwise several notes would be out of range of the
instrument) and is identical to it, except for a few passages. (Score (violin version), Edition Peters 66754)
Anna Maria Tekampe